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AUTODAFÉ
Edition Selene, broschiert / booklet, 144 Seiten
/ pages, 53 Farbabbildungen / colour pictures,
deutsch / german, Text von / text by Gottfried Goiginger
Empfehlung:
http://www.textur.com/schrott/default.htm
Folgendes Dokument kam der Öffentlichkeit aus der Unfallforschung
durch die Süddeutsche Zeitung in den Blick. Es handelt sich um einen
rekonstruierten Countdown vor dem Unfall. Sie haben vergessen sich anzuschnallen
und prallen mit Tempo 80 ohne Airbag frontal gegen einen
Baum.
Die letzte Sekunde verläuft folgendermaßen:
1,0 Sekunden
Die Bremsen haben blockiert. Sie sind starr vor Schreck.
Es gibt kein Ausweichen mehr.
0,9 Sekunden
Mit weißen Knöcheln umklammern Sie das Lenkrad.
0,8 Sekunden
Die vordere Stoßstange und der Kühlergrill werden zermalmt.
0,6 Sekunden
Mit 80 km/h rast Ihr Körper nach vorne. Sie wiegen jetzt mehr als
drei Tonnen und werden mit 20-facher Schwerkraft aus dem Sitz gehoben.
Ihre Beine brechen am Kniegelenk.
0,5 Sekunden
Ihr Körper löst sich aus dem Sitz. Der Rumpf ist starr aufgerichtet,
die gebrochenen Kniegelenke werden gegen das Armaturenbrett gepreßt.
Umhüllung und Stahlfassung des Lenkrades biegen sich unter Ihren
Händen.
0,4 Sekunden
60 Zentimeter des Autobugs sind total deformiert. Der Körper rast
weiter mit 80 km/h; fast eine halbe Tonne schwer, stößt in
das Hindernis.
0,3 Sekunden
Ihre Hände, in Todesangst starr verkrallt, biegen das Lenkrad fast
vertikal, die Gelenke und Unterarme brechen. Durch die andauernde Schwerkraft
werden Sie von der Lenksäule durchbohrt, Stahlsplitter dringen in
den Brustkorb, reißen Löcher in die Lunge und zerfetzen die
inneren Arterien. Blut dringt in die Lungenflügel.
0,2 Sekunden
Ihre Füße werden aus den Schuhen gerissen, das Bremspedal bricht
ab, das Fahrgestell knickt in der Mitte ein, Bolzen lösen sich, Schrauben
reißen ab. Ihr Kopf kracht gegen die Windschutzscheibe. Sie haben
nicht einmal mehr die Zeit, zu schreien.
0,1 Sekunden
Das Auto krümmt sich, die Sitze haben sich aus der Verankerung gelöst,
schnellen nach vorn und pressen Ihren Brustkorb gegen die gesplitterte
Lenkradsäule. Blut schießt aus Ihrem Mund. Durch den Schock
bleibt Ihr Herz stehen.
0,0 Sekunden
Sie leben nicht mehr.
Bildermaschinen wörtlich durchkreuzt
Zu Dieter Hubers Autodafé
Gottfried Goiginger
1.
Während sich andere Generationen mit ihren Vätern messen mußten
und Mann werdend Ablösung im Grenzziehenden erkämpften, findet
in unserer Biografie der Bruch mit Vergangenem und Zukünftigem auf
einer im Auto angebrachten Plakette mit zwei Buchstaben statt: Das für
einen Tag stillgelegte Fahrzeug und die dafür verantwortliche, plötzlich
spürbar gewordene Macht erdölproduzierender Länder hatte
unsere identitätsstiftende Krise ausgelöst und nicht
der Konflikt mit dem
Vater.
Das kindliche Glaubensbekenntnis schneller, höher, weiter
mußte Anfang der siebziger Jahre jegliche Gültigkeit verlieren.
Zukunftsentwürfe, die der Technik gleichsam die gesamte gestaltende
Kraft zuschrieben, zerbröselten von einem Tag auf den anderen. Die
Visitenkarte des persönlichen und beruflichen Erfolgs das
Automobil wurde mit zwei Buchstaben stigmatisiert: gleich ob es
MO, DI, MI,
DO, FR, SA, SO war, die Wunde saß tief. Und für uns, die wir
an der Schwelle zum Erwachsenwerden standen, sollte sie niemals verheilen.
Der autofreie Tag, die Plakette, die darüber Auskunft gab, ist natürlich
nur marginales Zeichen für das, was wir in aller Entschiedenheit
verloren hatten: Technikgläubigkeit.
Das perfekte, stromlinienförmige Wunderland, bunt und transparent,
weitläufig und sich wie von selbst am Reißbrett entwerfend
war von einem Tag auf den anderen aus unserem Traum verschwunden. Das
Gefühl der Allmacht, das Bewußtsein, jedes Problem mit Hilfe
der Technik in den Griff zu bekommen, war unwiderruflich verloren.
Das Ich hatte sich geteilt, niemand von uns hatte je wieder das Traumauto-Quartett
aus der Schublade geholt. Und die Augen irrten durch die Welt, denn das
einstmals Schöne eine wundersam gestreckte, geduckte Form
von Pinin Farina oder Bertone etwa hatte seinen Reiz verloren.
In diesem Augenblick lernte auch unsere behütete Generation kennen,
was es heißt, Mangel zu leiden: Die Ölprinzen hatten uns aus
dem Paradies vertrieben.2.
Heute nach wie vor faszinierend ist die Bildermacht dieses sich selbst
bewegenden Fahrzeuges. Worte lassen den einstigen Widerspruch verblassen,
auch oder gerade dann, wenn sie sich kokett gebärden, wenn sie sich
als doppelbödig erweisen:
In diesem Sinne ist es auch ganz einfach, die Motorhaube zu öffnen,
sie schwingt an Teleskoparmen hoch und muß nicht erst eingestützt
werden. Und hier ruht, eingefügt wie in einer Bonbonniere, der juwelenhaft
aufbereitete Vierzylinder.
In den Automobilzeitschriften, vor allen Dingen in der hier zitierten
AUTOREVUE, wird das gleichsam belanglose Produkt umhüllt und aufgefüllt.
Die legere Haltung des Autojournalisten, das sich gerne in poetische Wortabfolgen
ergießt, geizt aber auch nicht mit entlarvenden Interpretationen:
Aber was einerseits Beliebtheit und Kraft der Marke ausmacht, nämlich
Qualitätsdenken auf höchster Ebene über lange Strecken
und aus tiefer Tradition heraus, das stemmt sich andererseits gegen verspielte,
leichtfertige Fingerübungen mit Mut zum Scheitern an Teilfronten.
Erfolg durch Probieren ist der Deutschen Sache nicht, sie rücken
planweise vor, abgesichert durch seriöse Vorausarbeit auf allen Ebenen.
Langer Atem statt modellausstoßweisem Hecheln.
Und kommentarlos sei eine Werbung aus demselben Heft angefügt:
Die Verdichtung des Fahrens beginnt schon beim Einfädeln in
die richtige Sitzposition, das dreidimensionale Armaturenbrett umfaßt
einen sorgsam, so als ob man mitkonstruiert wäre. Es ist beinahe
unmöglich, irgendwas falsch zu machen, alles geht wunderbar zur Hand
und legt einem das Auto so richtig auf.
Der A610 ist die direkteste Verbindung zur Fahrbahn, spürbar in den
Füßen an den stehenden Pedalen, in den Händen am kurzwegigen
Schalthebel, am Hintern, der nur registriert, daß das Fahrwerk jede
Welle penibelst verarbeitet, am Cockpit, das einen mit dem Auto verschweißt.
Und hinter einem der mächtige Turbo-Motor er kickt die Alpine
wie einen Fußball von Kurve zu Kurve, ohne Anlauf und ohne Ausholen.3.
Das Automobil bewegt die westliche Zivilisation. Es ist noch
Dreh- und Angelpunkt im wirtschaftlichen Gefüge, zentrales, niemals
ruhendes Moment in einer Gesellschaft, die Freiheit, Individualität
und Unabhängigkeit als ihre Losungen ausgibt. Das Automobil ist Inbegriff
und Ikone der Gesellschaft, das sich scheinbar in einer Welt orientiert,
deren Eckpunkte und Signalstangen glänzende Waren sind.
Die Moderne hat mithin im chromverzierten Automobil sein überzeugendstes
Symbol gefunden: Eine Maschine, die Weg und Geschwindigkeit herstellt,
produziert am fließenden, am laufenden Band, komplex, aber nicht
undurchschaubar. begreifbar.
Der Produktionsprozeß spiegelt sich dann auch im fertigen Produkt
wider. Das macht einen insgeheim dieses Produkt so vertraut. Und es operiert
beständig im Bereich des Erklärbaren, das Rätselhafte und
das Geheimnisvolle werden zugunsten der Funktion ausgespart ... Die Form
dieses Produkts soll den Anforderungen und Bedürfnissen des späteren
Käufers hundertprozentig entsprechen.
Weil dieses Produkt, das eigentlich nur dazu dient, von einem Punkt zu
einem anderen zu gelangen, eine entscheidende Rolle spielt, ist es als
Bildträger interessant geworden. Die vordergründige Funktionalität
wird mit Bildern überlagert. Mit Bildern, die außerhalb jeder
Rationalität angesiedelt sind. Mit Bildern, die dem simplen Produkt
Magie und Aura verleihen sollen.
Die Botschaften dieser Bilder stabilisieren den Kreislauf von Geld und
Ware, sie erzeugen Wunschvorstellungen eines metallisch schimmernden Paradieses,
in dem sich das Individuum in all seiner sozietätskonformen Unabhängigkeit
Glück aneignen kann.
Hergestellt werden die Bilder in den Reklameabteilungen großer Autofirmen
und in internationalen Werbeagenturen. Ein Automodell, dessen Entwicklung
mehrere Milliarden Schilling kostet, wird von der Werbeindustrie besonders
sorgsam und sorgfältig behandelt. Hier wird exakt hinterfragt und
demoskopisch erhoben, mit welchen Sehnsuchtsbildern, mit welchen Wunschvorstellungen
das Auto verknüpft werden soll. Das Image der Marke ist der entscheidende
Motivator, die Bilder, die man mit dem Automodell verbindet, sind DAS
Verkaufsargument.
Daher ist jede Automarke so genau codiert. Jede Automarke soll beim Betrachter
die richtigen, ihr zugehörige Assoziationen, Vorstellungen und Emotionen
auslösen. Das Auto ist ein deutlich besetztes Bild, das gleichzeitig
seinen Besitzer bezeichnet, über ihn und seine Wünsche Auskunft
gibt, indem es sich im Öffentlichen Raum bewegt.
Als Bildspeicher und Visitenkarte funktioniert das Auto perfekt. In diesen
Funktionen ist es gleichsam Spiegelbild des gesellschaftlichen Zustands.
Dieter Hubers Textapplikationen auf im täglichen Einsatz stehenden,
privaten Fahrzeugen durchkreuzen diese präzisen Bezeichnungs- und
Bedeutungsebenen. Während die Marke über Firmensignet und Typenbezeichnung
gleichsam tautologisch die mit ihr verknüpften Assoziationen und
Images abruft und bestärkt, weist es gleichzeitig einer Signatur
auf einem Gemälde nicht unähnlich auf die Echtheit und
Wahrheit der ihm entgegengebrachten Empfindungen hin. Einem Mercedes ohne
Stern fehlt sozusagen das Echtheitszertifikat, obschon der Wagen ohne
Kühlerfigur selbstverständlich wiedererkannt wird.
Diese obskure Zeichen- und Wortgläubigkeit in Verbindung mit dem
Automobil paraphrasiert Dieter Huber. Seine Begriffe torpedieren die Wunschvorstellungen,
die sich im Auto spiegeln, sie verweisen auf die von der Werbung ausgeblendeten
Schattenseiten dieses Kultgegenstandes und zerstören so das Erfüllungspotential,
das im Auto verborgen zu sein scheint.
Die Traummaschine also auf dem Prüfstand. Fünfzig Salzburger
Autos werden mit Worten beklebt. Worte, die einem einfallen, wenn man
über das Auto nachdenkt. Worte, die aus jeder Systematik ausscheren.
Wenn sich die Worte auf den Straßen kreuzen, wird es neue Verbindungen
geben, das Auto enttarnt sich durch seine Mobilität selbst.
Die Traummaschine auf dem Prüfstand. Der Radius des Wendekreises
wird gemessen werden, die Beschleunigung, die Leistung, der Verbrauch.
Die Testverfahren sind andere als die der Motorsportjournalisten. Hier
werden andere Fragen gestellt: Wer bezahlt für sein Glück wieviel?
Was bleibt von dem Fetisch des Alltags übrig, wenn er einen Monat
lang andere Namen bekommt, wenn er damit in doppelter Hinsicht
neu beschrieben wird?
Noch einmal wird das Auto verwundet, indem es markiert wird: Wenn sich
Individualität als Fiktion herausstellt (Sind deswegen vielleicht
die Rallyestreifen, die Nebelscheinwerfer und Breitstrahler von der BILDFLÄCHE
verschwunden?), dann hilft auch die schmückende Bezeichnung nicht
mehr. Das Dekor verhüllt die letzten, nur mehr schwach schimmernden
Bilder.
Der Hahnenkampf der Männer findet heute nicht mehr auf der Straße
statt: Das Protzen mit Pferdestärken und Beschleunigung, so Dieter
Huber, weicht den zurückhaltenden, distinguierten Auskünften
über den Takt des Prozessors und den Megabytes an RAM. Die neiderweckende
Ware, das Prestigeprodukt hat seinen Marktplatz verloren, ist in die Abgeschiedenheit
des Privaten oder der Arbeitsstelle verbannt worden.
Welche Ikonen wird der Mensch des 21. Jahrhunderts schaffen?
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